Tödliche Perfektion
Beim Waschen & Aussortieren einiger gedumpsterter, also aus dem Müll befreiter Kirschen machte ich mir Gedanken über deren Werden & Vergehen.
Da ich die Kirschen schon einige Tage bei mir herumstehen hatte, waren bereits einige fleckig oder sogar verschimmelt. Und ganz viele hatten Verwachsungen, seltsame Formen & Muster auf der Oberfläche. Keine glich der anderen, und dieses klassische Bild einer Kirsche, wie wir es aus der Werbung kennen, war überhaupt nicht zu finden.
Ich genoß diese Vielfalt. So war der neugierige, ästhetische Teil in mir bei dieser sonst eintönigen Arbeit auch beschäftigt. Ich hatte schon als Kind gerne Formen in Flecken gesehen. Und wenn alles perfekt und gleich war, fand ich das eher langweilig und zunehmend auch gefährlich. In der Schule, als wir von Evolution lernten, begriff ich schnell, daß Mutationen eigentlich Krüppel, Mißgeburten waren, von denen sich manche jedoch als vorteilhaft erwiesen. Wenn alles gleich war, konnte nie etwas besser werden.
Vor allem lernte ich jedoch von klein auf, daß Unterschiede, Verwachsungen, Flecken nicht bedeuteten, daß etwas verdorben war. Früchte reifen, werden überreif, bekommen Flecken und beginnen irgendwann langsam zu verrunzeln, zu vergammeln, zu verfaulen oder zu verschimmeln. Dies ist ein fließender und sehr vielfältiger Prozess, der bei jeder Frucht etwas anders verläuft. Und wie lange was noch genießbar ist, zeigt sich immer wieder neu.
Es ist ja heutzutage sehr beliebt, vom Überleben in einer unbekannten oder gar feindlichen Natur zu träumen, dramatische Filme oder abenteuerliche Survival-Kurse zu konsumieren, bei denen ein Durchkommen unter widrigsten Umständen erlebt werden kann. Vielen ist unsere Umwelt so fremd geworden, daß sie nur noch feindlich oder glorifizierend wahrgenommen werden kann. Da gibt es nur perfekt & defekt. Und der Gedanke, Müll zu essen, ist gerade diesen Leuten vollkommen widerlich. Vor meinen Kirschen würden sie wohl verhungern. Selbst wenn sie sich irgendwann überwinden könnten, würden sie keine einzige Kirsche finden, wie sie sie kennen. Die sind alle defekt.
Vielleicht wird es irgendwann Kurse zu konsumieren geben, in denen gelernt wird, was noch genießbar ist. Selbst Hühner bringen das ihren Küken in artgerechter Haltung selbst bei. Wollen wir uns nicht lieber auch artgerecht halten?
Dann ist das Zulassen & Interesse für Imperfektion & Vielfalt eine essentielle, ja lebenswichtige Aufgabe.
Doch noch eine andere Frage beschäftigte mich: Warum wird Perfektion so hochstilisiert, verehrt, angebetet?
Ist es der Wunsch, im Äußeren vermeintliche Sicherheit vor tieferen, versteckten, wahren Mängeln, wie Überdüngung, Bioziden oder sonstigen schädlichen Inhaltsstoffen zu finden? Zeigt uns nicht die Realität immer wieder, daß es eher umgekehrt ist? Je weniger vergiftet umso schneller fleckig. Narben bezeugen Widerstandskraft. Vielfalt ist gesund.
Oder wurde die Perfektion zum Gott, weil uns wahre Ideale, Leitfiguren, Vorbilder abhanden kamen?
Soll äußere Vollkommenheit den Mangel an inneren Werten & Tugenden wettmachen?
Ist uns eine vollendete Meisterschaft in vorbildlichem Leben nicht wichtiger als perfekte Wimpern?
Dann werden wir wohl glanzvoll scheitern oder aus Fehlern & Mängeln lernen.